Trendumfrage Bin Picking in der Industrie

Trendumfrage Bin Picking in der Industrie

Der schwierige Griff in die unsortierte Kiste

In der aktuellen Trendumfrage hat ROBOTIK UND PRODUKTION Experten zum Thema Bin Picking in der Industrie befragt. Dabei ging es um Bin-Picking-Applikationen, die sich bereits im Einsatz befinden, aber auch um mögliche Probleme bei der Umsetzung sowie um den Einsatz von künstlicher Intelligenz. Es antworteten Prof. Dr. Jens Lambrecht, Managing Director bei Gestalt Robotics, René Purwin, Projektmanager bei Isys Vision, Tolga Sarraf, Sales Director DACH bei Isra Vision, und Tobias Rietzler, CEO und Co-Founder von Robominds.

ROBOTIK UND PRODUKTION: Inwiefern ist Bin Picking heute schon als Anwendung in der Produktion einsetzbar?

Professor Dr. Jens Lambrecht, Gestalt Robotics: Bin-Picking-Systeme gibt es mittlerweile als Off-The-Shelve-Lösungen für eine breite Anzahl von Anwendungsfällen. Die meisten Systeme nutzen CAD-Daten der Bauteile und einen darauf aufbauenden Abgleich von Bauteilgeometrie und Tiefenbildern. Somit lassen sich die Posen der Werkstücke erkennen und an den Roboter weitergeben. Vorausgesetzt wird eine Kalibrierung von Kamera und Roboter, die in vielen kommerziellen Lösungen einfach durchführbar ist. Die Systeme am Markt funktionieren in der Regel für ein definiertes, sortenreines Anwendungsspektrum bereits sehr gut und werden in Branchen von der Metallverarbeitung bis zur Elektronikfertigung eingesetzt.

René Purwin, Isys Vision: Bin Picking ist heute tatsächlich schon produktiv einsetzbar. Möglich macht das die Verfügbarkeit von leistungsfähigen 3D-Kameras, die Punktwolken auch unter schwierigen Bedingungen schnell und zuverlässig erzeugen. Doch nur in Kombination mit leistungsstarker Software können diese dann schnell ausgewertet werden. Zusätzlich funktioniert es mit der geforderten Zuverlässigkeit nur dann, wenn die Entnahme von Teilen aus den Teileträgern kollisionsfrei erfolgt. Für die effiziente anschließende Montage oder Weiterverarbeitung muss die Ablage der Teile ausgerichtet erfolgen, um aufwendige Zwischenschritte zu vermeiden.

Bin Picking ist heute tatsächlich schon produktiv einsetzbar. (Bild: Isys Vision GmbH)

„Bin Picking ist
heute tatsächlich schon
produktiv einsetzbar.“ René Purwin, Isys Vision (Bild: Isys Vision GmbH)

Tolga Sarraf, Isra Vision: Bin Picking wird bereits seit vielen Jahren in der Produktion von Industrieunternehmen eingesetzt. Die erste Bin-Picking-Kameralösung von Isra Vision wurde bereits vor ca. 10 Jahren in Betrieb genommen. Immer mehr produzierende Betriebe gewinnen Vertrauen in diese Technologie und setzen sie bereits mehrfach ein.

Tobias Rietzler, Robominds: Der sogenannte Griff in die Kiste zählt zu den schwierigsten Aufgabenstellungen in der Robotik. Das Ziel dabei ist es, Roboter so zu programmieren, dass sie ungeordnete Objekte aus Kisten greifen können. Ein typischer Anwendungsfall des Bin Pickings ist die Entnahme von beliebigen Objekten und ihre Kommissionierung in der Logistik. Das größte Problem dabei besteht in der sicheren Erkennung der unsortierten Objekte sowie in dem hohen Aufwand für die Programmierung der Systeme. Es wird dafür ein intelligenter Ansatz benötigt, der einen klar definierten Entscheidungsraum mitbringt. Heute sind schon intelligente Robotersysteme in der Produktionslogistik im Einsatz.

„Der sogenannte Griff in die Kiste zählt zu den schwierigsten Aufgabenstellungen in der Robotik.“ Tobias Rietzler, Robominds (Bild: Robominds GmbH)

ROBOTIK UND PRODUKTION: Was sind derzeit noch die größten Probleme beim industriellen Einsatz von Bin Picking?

Sarraf, Isra Vision: Der Trend geht hin zu immer kürzeren Taktzeiten und zur Anbindung von unterschiedlichen Robotertypen. Eine gewichtige Rolle spielt bei dieser Applikation der Greifer. Was nützt das beste Bildverarbeitungssystem, wenn der Greifer nicht in der Lage ist, das Bauteil zu greifen.

Rietzler, Robominds: Unter dem Begriff Bin Picking wird vor allem in der Automatisierungstechnik ein modellbasierter Ansatz des Robotergreifens anhand eingelernter CAD-Dateien verstanden. Die Realität ist jedoch für starre, modellbasierte Ansätze zu dynamisch und produziert unvorhergesehene Szenarien, die das System zum Stillstand zwingen. Erst flexible Systeme, auch Smart Picking genannt, lassen einen 24h-Betrieb zu, der auf unterschiedliche Situationen reagieren kann. Lange Betriebszeiten, sofortige Adaption und mehrere Picking-Roboter liefern dann auch dementsprechende Rentabilität und Skaleneffekte.

Prof. Dr. Lambrecht, Gestalt Robotics: Zunächst einmal existieren verschiedene Messprinzipien für die Gewinnung von Tiefenbildern. Die einzelnen Prinzipien, z.B. Time of Flight, haben individuelle Vor- und Nachteile, sodass stets darauf zu achten ist, für die spezifischen Anforderungen hinsichtlich Werkstück, Prozess und Umgebung das richtige Sensorsystem zu wählen. Hier das richtige System für den entsprechenden Anwendungsfall zu wählen, obliegt nach wie vor Experten. Große Herausforderungen bestehen noch bei stark reflektierenden Materialien, bei denen z.B. individuelle Ansätze mit Polarisation zum Einsatz kommen können. Die Anwendbarkeit der am Markt erhältlichen Off-The-Shelve-Systeme endet dann in der Regel, wenn keine Informationen zu den zu greifenden Objekten zur Verfügung stehen, bzw. hier eine hohe Variation besteht wie z.B. im Bereich Retail.

„Große Herausforderungen
bestehen noch bei stark
reflektierenden Materialien.“ Prof. Dr. Jens Lambrecht, Gestalt Robotics (Bild: Gestalt Robotics GmbH)

Purwin, Isys Vision: Ein Problem ist aktuell noch die geringe Praxiserfahrung. Viele Anwendungen sind noch Pilot- oder Laborprojekte, die einen erheblichen Lernaufwand bedeuten. Anwender müssen sich dann erstmals mit einem ganzen Bündel von neuen Technologien befassen, die sie vorher noch gar nicht eingesetzt haben, von der Bildaufnahme und -verarbeitung bis zur Roboterintegration. Um diese Hürden zu nehmen, sind aus unserer Sicht zwei Dinge entscheidend: Einerseits eine umfassende Unterstützung, z.B. durch den Hersteller, einen Integrationspartner oder kompetenten Anlagenbauer und andererseits eine möglichst einfache Handhabbarkeit der Bin-Picking-Lösung. Diese sollte nicht auf die Interessen der Programmierer und Bildverarbeitungsspezialisten zugeschnitten sein, sondern sich am industriellen Workflow orientieren.

ROBOTIK UND PRODUKTION: Welche Rolle wird künstliche Intelligenz für das Thema Bin Picking zukünftig spielen?

Rietzler, Robominds: Künstliche Intelligenz stellt die essenzielle Basistechnologie für flexible und intelligente Systeme dar. Dazu gehören auch Roboter, die zunehmend mit Menschen zusammenarbeiten und ihnen zur Hand gehen. Dabei fordern wir von Robotern ein hohes Maß an Interaktionsmöglichkeiten mit deren Umwelt. Nur auf Basis von künstlicher Intelligenz mit streng definiertem Entscheidungsraum ist diese Zusammenarbeit zwischen Mensch und Roboter möglich.

Sarraf, Isra Vision: KI ist immer mehr im Kommen. Es müssen keine Bauteile mehr eingelernt werden, das System erkennt selbstständig, um welches Bauteil es sich in der Kiste oder auf dem Band handelt. Bis wir so weit sind, werden sicher noch einige Jahre vergehen, aber das wird definitiv die Zukunft werden.

„KI ist immer mehr im
Kommen. Bis dahin werden
noch einige Jahre vergehen,
aber das ist definitiv die Zukunft.“ Tolga Sarraf, Isra Vision (Bild: Isra Vision AG)

Purwin, Isys Vision: KI ist eine Schlüsseltechnologie, deren Leistungsfähigkeit in Bildverarbeitungsanwendungen jetzt schon greifbar ist. Das wird natürlich auch im 3D-Bereich wichtig werden, der für roboterbasiertes Bin Picking oder auch allgemeine Handlingaufgaben zentral ist. Mit geeigneten KI-Systemen sind Teile sicherer zu identifizieren. Einen großen Fortschritt versprechen KI-Anwendungen bei Prüfaufgaben und i.O/n.i.O-Unterscheidung von Teilen. Da sind die Kriterien oft sehr komplex und kaum 100-prozentig formulierbar. Vielmehr ist Erfahrung und Urteilsfähigkeit gefragt, was mit simpler Vermessung von Abweichungen nicht ersetzt werden kann – mit KI aber schon. Selbst bei der schwierigen Suche nach Fehlerteilen in Behältern mit (teil-)transparenten Objekten konnten wir mit KI-Lösungen überraschend gute Ergebnisse erzielen. Ein Problem, das sich konventionell gar nicht lösen ließ.

Prof. Dr. Lambrecht, Gestalt Robotics: Der Einsatz künstlicher Intelligenz, im speziellen Machine Learning, dient primär der Flexibilisierung von Bin-Picking-Systemen. KI-Verfahren spielen bei Unsicherheiten bzw. Variationen von Werkstück, Prozess und Umgebung ihre Stärken aus. Im Vergleich zu klassischer Bildverarbeitung können sich KI-basierte Verfahren besser an veränderte Umgebungsbedingungen anpassen. Es bestehen seit jüngster Zeit zudem sehr vielversprechende Ansätze für generische Greifstrategien, bei denen Objektgeometrien und Materialien im Vorfeld nicht mehr bekannt sein müssen. Zudem können KI-Verfahren dazu beitragen, Systemkosten zu reduzieren, indem einerseits auch im industriellen Bereich Kamerasensorik aus dem Consumer-Bereich zunehmend sicher und zuverlässig eingesetzt werden kann. Anderseits sind KI-Verfahren mehr und mehr in der Lage, 3D-Informationen aus 2D-Bildern zu gewinnen. Im Sinne einer Anwendung kontinuierlicher KI-Verfahren, lassen sich weiterführend auch industrielle Prozesse entlang ihres Lebenszyklus weiter autonom verbessern. So kann durch Prozess-integriertes Feedback eine kontinuierliche Steigerung der erfolgreichen Griffquoten sowie eine allgemeine Effizienzsteigerung der Prozesse durch automatische Anpassung von Verfahrwegen erfolgen. (fiz)

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