Britannia rules…?
Die Briten sind raus aus der Europäischen Union. Nun pokert die Insel-Regierung mit der EU-Kommission in Brüssel vor allem um ein ‚pragmatisches‘ Handelsabkommen, freilich beseelt vom Wunsche ‚Britannia first‘. Nur – wie kann das funktionieren?
Vor zwei Jahren wies die Handelsbilanz Großbritanniens mit der EU ein Defizit von etwa 107,4 Milliarden Euro auf. Das heißt konkret: Während GB Waren im Wert von 301,2 Milliarden Euro aus den Ländern der EU importierte, betrug das Exportvolumen eben dorthin 193,8 Milliarden Euro. Ausgeführt werden vor allem Fahrzeuge – beileibe nicht ausschließlich traditionell britische Marken – Erdöl und Erdöl-Produkte, Pharmazeutika und Turbinen. Dieses widerspiegelt in etwa auch die Liste der größten Wirtschaftsunternehmen des Königreiches. Auf ihr finden sich Erdöl-, Bergbau und Pharmakonzerne, Händler und Dienstleister, aber kein einziger Maschinen-, Anlagen- oder Roboterbauer, kein Unternehmen aus der Steuerungs- und Antriebstechnik, der Bildverarbeitung, der IT-Branche. Das jedoch ist erklärbar: Englands einstmals prosperierende Automatisierungs-Industrie hat sich in den letzten 30 Jahren praktisch selbst zerlegt.
Unternehmen, die Bedarf an derartigen Lösungen und Leistungen haben, müssen sie auf dem kontinentalen Festland kaufen – und dafür künftig horrende Zölle zahlen, sollten sich die Unterhändler der EU und des UK am Ende dieses Jahres nicht auf ein (Frei)Handelsabkommen geeinigt haben. Gleiches gilt für im Vereinigten Königreich ansässige Unternehmen, die aufgrund ihrer Geschäftstätigkeit weitreichende, internationale Zulieferketten haben. Besonders hart betroffen wäre die ohnehin schon länger unter einer Absatzkrise leidende Automobil-Industrie auf der Insel. So schätzte z.B. Dr. Ralf Speth, CEO von Jaguar Land Rover, die jährlichen Mehrkosten für sein Unternehmen auf etwa 1,1 Milliarden Euro im Falle eines harten Brexit. Dazu ist es letztlich nicht gekommen, doch die Gefahr, dass der amtierende britische Premier Boris Johnson auch beim Handelsabkommen seine No-Deal-Strategie gegenüber der EU weiterhin erfolgreich verfolgt, besteht nach wie vor. Die Folge wären Ausfuhrzölle, die wiederum Exportgüter verteuern würden. Schon jetzt sprechen Autohändler in Europa von einem Aufpreis von 3.000 Euro pro Fahrzeug.
Nun sind die Marken Jaguar und Land Rover Aushängeschilder des britischen Automobilbaus. Undenkbar, dass der Konzern seine Produktion von der Insel auf den Kontinent verlagert, um die drohenden Zoll-Milliarden zu umgehen. Ein kollektiver Aufschrei wäre die Folge. Schließlich hängen direkt wie indirekt tausende Arbeitsplätze daran.
Das ist zwar beim deutschen Automobil- und Industriezulieferer Schaeffler ähnlich, der in Großbritannien produziert. Doch die Ungewissheit um die wirtschaftlichen Folgen des Brexit haben die Verantwortlichen veranlasst, ihre dortigen Geschäftsstrukturen neu zu ordnen: Zwei der drei Produktionswerke und einer von zwei Logistikstandorten werden mittelfristig dichtgemacht. Wie viele der 1.000 Arbeitsplätze wegfallen, ist offen.
Schaeffler ist jedoch nur eines von etwa 2.500 deutschen Unternehmen, die in England insgesamt gut 400.000 Mitarbeiter beschäftigen. Nur mal angenommen: Airbus, Audi, Balluff, BMW, Miele, Siemens, Trumpf & Co. würden ähnlich konsequent handeln wie das Familienunternehmen aus Herzogenaurach – Premier Johnson hätte außer seinem Glaubwürdigkeits- auch ein ganz massives soziales Problem am Hals: nämlich jede Menge Arbeitslose. Noch desaströser wird dieses Szenario, bezieht man all die Unternehmen aus anderen EU-Ländern sowie aus Japan ein, die im Vereinigten Königreich Produktionsniederlassungen unterhalten.
Ich will hier nicht schwarzmalen. Wir alle hoffen freilich auf ein Handelsabkommen, das alle Beteiligten zufriedenstellt. Nur – sollte dieses nicht zustande kommen, dann könnte die heimliche Hymne Großbritanniens einen leicht geänderten Text bekommen. Anstelle von ‚Britannia rule the waves‘ schlage ich vor ‚Britannia rules nothing‘. (mli)