Prof. Dr. Markus Glück, CINO bei Schunk, im Interview

Prof. Dr. Markus Glück, CINO bei Schunk, im Interview

Die aktuellen Trends der Greiftechnik

Digitalisierung, Mensch/Roboter-Kollaboration, der Trend zu autonomen Systemen – die aktuellen Umwälzungen der Industrie haben auch die Robotik erfasst und mit ihr deren Peripherie. Professor Dr. Markus Glück, Chief Innovation Officer (CINO) bei Schunk, sieht hier große Chancen: Die neuen Anwendungsfelder der Greifsysteme entlasten Mitarbeiter, erhöhen die Flexibilität und erhöhen die Transparenz in der industriellen Produktion.

Ein UR-Roboterarm eignet sich in Kombination mit dem vielzahngeführten PGN-plus-Universalgreifer von Schunk für die einfache und kostengünstige Maschinenbeladung. (Bild: Schunk GmbH & Co. KG)

Ein UR-Roboterarm eignet sich in Kombination mit dem vielzahngeführten PGN-plus-Universalgreifer von Schunk für die einfache und kostengünstige Maschinenbeladung. (Bild: Schunk GmbH & Co. KG)

ROBOTIK UND PRODUKTION: Herr Professor Glück, wie hat sich die Welt der industriellen Robotik in den vergangenen fünf Jahren verändert?

Prof. Dr. Markus Glück: Der Robotermarkt hat sich sowohl im Gesamtvolumen als auch in der Anwendungsbreite und Anbietervielfalt sehr dynamisch entwickelt. Die Robotik erklimmt eine neue Entwicklungsstufe: Neben den klassischen Industrierobotern und der Vollautomation der Serienfertigung etablieren sich kleine, wandlungsfähige Roboter und Manipulatoren. Fabrik- und Anlagenplaner denken heute sehr viel stärker aus Sicht der optimalen Anwendung und bedienen sich bei der Umsetzung von Applikationen vorbehaltlos unterschiedlicher Technologien. Zwei grundlegende Entwicklungsrichtungen sind derzeit erkennbar: Zum einen der Trend zur Simplifizierung, sprich ein einfacher Einstieg in die Robotik und die intuitive Bedienung der Roboter. Zum anderen der Trend zu intelligenten Lösungen und Funktionsintegration mit wachsenden Anforderungen an Sensorik und Intelligenz der Greifsysteme. Beide Trends erfordern, dass mehr Funktionalität in die Komponente integriert wird. Anwender fordern heute intuitiv programmierbare, flexibel einsetzbare Systeme und erwarten immer mehr Autonomie bei der Inbetriebnahme und im eigentlichen Betrieb. Wenn schon Kinder komplexe Systeme wie ein Smartphone spielerisch bedienen und bereits Fahrzeuge der Kompaktklasse autonom in x-beliebige Parklücken manövrieren, lässt sich nur noch schwer erklären, weshalb es Tage und Wochen dauert, bis hochqualifizierte Mitarbeiter einen Roboter programmiert haben.

Den für kollaborative Anwendungen zertifizierten Co-act-EGP-Greifer gibt es mit Schnittstellen für alle gängigen Cobots. (Bild: Schunk GmbH & Co. KG)

ROBOTIK UND PRODUKTION: In welcher Weise beeinflusst diese Evolution der Robotik heute schon den Markt?

Glück: Das bislang vorherrschende Produkt- und Komponentendenken der einzelnen Akteure wird zunehmend abgelöst durch Applikationen und Plattformen wie UR+ von Universal Robots oder Kuka Marketplace. Es entstehen anwendungsbezogene Ökosysteme, die auf einer zentralen Erkenntnis beruhen: Ein einfaches Plug&Work, eine intuitive Roboterbedienung und eine intelligente Handhabung sind nur möglich, wenn Komponenten wie Greifsysteme und Roboterarme sich nahtlos, schnell und einfach zu einem Handhabungssystem integrieren lassen. Noch nie war der Gedanke des Plug&Work so ausgeprägt wie heute in Zeiten der Plattformökonomie und smarter Produktionslandschaften.

„Noch nie war der Gedanke des Plug&Work so ausgeprägt wie heute.“ Prof. Dr.-Ing. Markus Glück
Geschäftsführer Forschung & Entwicklung, CINO, Schunk (Bild: Schunk GmbH & Co. KG)

ROBOTIK UND PRODUKTION: Wie geht Schunk als Komponentenhersteller mit dem Anspruch der Kompatibilität um?

Glück: Den Gedanken der einfachen Integration haben wir auf unser Katalogprogramm übertragen: Für die Leichtbauroboter von Universal Robots bieten wir mittlerweile ein individuell abgestimmtes Portfolio an Plug&Work-Lösungen – von konventionellen, pneumatischen Komponenten über elektrische Universalgreifer fürs flexible Greifen bis hin zu Greifern für kollaborative Anwendungen. Hinzu kommen Komponenten aus dem Roboterzubehör. Im Kern geht es darum, den Einstieg in die Leichtbaurobotik so einfach wie möglich zu machen. Dass Schunk vor allem seine Top-Seller aus dem Standardgreiferprogramm für die Leichtbauroboter von UR plug&work-fähig gemacht hat, erhöht die Investitionssicherheit für Anwender. Zertifizierte Co-act-Komponenten verkürzen den Zertifizierungsaufwand bei kollaborativen Applikationen, URCaps-Plugins vereinfachen die Inbetriebnahme, preisattraktive Greifer wie der elektrische EGP oder der pneumatische JGP reduzieren das Investitionsvolumen. Jüngstes Highlight ist der mechatronische Großhubgreifer EGL, der in der automatisierten Maschinenbeladung mit Leichtbauroboter der CB- und e-Serie von Universal Robots einen neuen Maßstab bei Flexibilität, Kraft und Funktionalität definiert. Das Starterpaket umfasst den intelligenten Servogreifer mit passenden Adapterplatten, Kabeln, Normteilen, URCaps-Plugin und auf Wunsch sogar mit Universalfingern und Spanneinsätzen. Über smarte, leicht verständliche Funktionen auf der UR-Oberfläche sowie vorkonfigurierte Parameter lässt sich der Greifer innerhalb von 15 Minuten in Betrieb nehmen und erste Abläufe lassen sich programmieren. Auch mit anderen Roboterherstellern gibt es mittlerweile Kooperationen, die zum Ziel haben, den Integrationsaufwand zu reduzieren und abgestimmte Lösungen anzubieten. Das betrifft übrigens auch die klassische Industrierobotik.

„Wir wollen den Einstieg in die Leichtbaurobotik so einfach wie möglich gestalten.“ Prof. Dr.-Ing. Markus Glück
Geschäftsführer Forschung & Entwicklung, CINO, Schunk (Bild: Schunk GmbH & Co. KG)

ROBOTIK UND PRODUKTION: Woher rührt dieses neue Denken? Hat sich die Nutzerstruktur in der Robotik derart verändert?

Glück: Der Boom der Leichtbaurobotik, den wir aktuell erleben, basiert auf zwei elementaren Vorteilen: Robotik wird erstens einfach und zweitens erschwinglich. Das gilt für die Hardware, aber auch für den Aufwand, den ich betreiben muss, um eine Applikation prozesssicher zu implementieren. Selbst kleine Unternehmen, die bislang kaum automatisiert haben, beschäftigen sich mittlerweile intensiv damit, wie sie über den Einsatz von Robotertechnologie oder sogar im Zusammenspiel von Mensch und Roboter Vorteile erzielen können. Damit verbunden ist die Forderung einer radikalen Vereinfachung. Es geht in diesem neuen Segment jedoch meist um wenig komplexe Basisanwendungen. Viele suchen derzeit den Einstieg in die Robotik und wollen die Technologie selbst kennenlernen. Hierbei geht es darum, Berührungsängste abzubauen. Ich bin überzeugt: Die klassische Industrierobotik wird weiter ihre Existenzberechtigung haben. Und sie wird genauso wie der Einsatz mehrerer Leichtbauroboter in verketteten Anlagen auch künftig das Knowhow der Systemintegratoren erfordern.

Der Großhubgreifer EGL eignet sich innerhalb des Schunk-Greifsystemprogramms für UR insbesondere für die Beladung von Werkzeugmaschinen, aber auch für andere Handlingaufgaben mit Teilegewichten bis 3kg. (Bild: Schunk GmbH & Co. KG)

ROBOTIK UND PRODUKTION: Welche Schwerpunktthemen verfolgen Sie aktuell in Forschung & Entwicklung?

Glück: Unser Fokus liegt gegenwärtig auf Handling-Systemen, die sich zügig und intuitiv in Betrieb nehmen lassen, selbsttätig an variierende Greifsituationen anpassen und eine Interaktion mit dem Menschen in gemeinsam genutzten Arbeitsräumen ermöglichen. Darüber hinaus steigt der Grad der Intelligenz in Handhabungssystemen: Smartes Greifen umfasst zusätzlich zum eigentlichen Greifprozess das sensorgestützte Detektieren unterschiedlicher Prozessparameter, deren Analyse sowie die Möglichkeit, situativ angepasst zu reagieren. Greifer werden zunehmend zu Fitness-Trackern der Anlage, die im Zusammenspiel mit vor- und nachgelagerten Komponenten vollautomatisch den Zustand der Produktion ermitteln, die Bauteilqualität beurteilen und die Effektivität, Prozessfähigkeit sowie Ausfallraten überwachen. Zudem werden sich Handlingsysteme immer stärker selbständig an ihr Umfeld adaptieren und an die jeweilige Greifsituation anpassen, je nachdem ob sie schwere, zerbrechliche oder nachgiebige Gegenstände handhaben.

„Die Arbeitsplatzergonomie wird zu einem wichtigen Treiber der Entwicklung im MRK-Bereich.“ Prof. Dr.-Ing. Markus Glück
Geschäftsführer Forschung & Entwicklung, CINO, Schunk (Bild: Schunk GmbH & Co. KG)

ROBOTIK UND PRODUKTION: Wie reagieren Anwender auf diese intelligenten und flexibel einsetzbaren Greifsysteme?

Glück: Bei der Präsentation unserer Technologiestudien erleben wir eine große Aufgeschlossenheit, ja regelrechte Neugierde. Vor allem kollaborierende Systeme und Systeme mit kognitiver Intelligenz begeistern und wecken den Spieltrieb: Menschen testen intuitiv, wann Sicherheitstechnologien anspringen, wie sich das System verhält, wie einfach es programmiert werden kann und welche Möglichkeiten die zugrundeliegenden Algorithmen bieten. Darin steckt eine große Chance: Anwender gewinnen Vertrauen und Berührungsängste werden abgebaut. In der Mensch/Roboter-Kollaboration zeigt sich, dass die Arbeitsplatzergonomie zu einem wichtigen Treiber der Entwicklung wird. Unternehmen suchen nach Möglichkeiten, wie sie die Arbeitskraft und das Know-How ihrer Mitarbeiter in Zeiten des Fachkräftemangels und des unaufhaltsamen demographischen Wandels erhalten und sichern können, indem sie die körperliche Belastung wirkungsvoll senken. Das haben wir insbesondere bei der Präsentation des Greifers Co-act EGL-C erlebt. Eine integrierte Kraft- und Wegmessung sowie eine zum Patent angemeldete Sicherheitsintelligenz ermöglichen, dass im kollaborativen Betrieb formschlüssig gegriffen Teile bis 8kg gehandhabt werden können. Damit stoßen wir im Bereich kollaborativer Systeme in eine neue Dimension vor, die gerade auf den Aspekt der Ergonomie einzahlt. Es gibt unzählige Montageanwendungen, bei denen Bauteile manuell zugeführt, gehalten und mit motorischem Feingefühl montiert werden. Gerade im Lastbereich bis 10kg wird in den Montagelinien bislang wenig technische Unterstützung angeboten, obwohl die körperliche Belastung auf Dauer hoch ist. Wenn der Cobot diese Last trägt, ohne die Flexibilität und das Prozesstempo einzuschränken, können sich die Werker weitaus besser auf die qualitätsentscheidenden Kernaufgaben konzentrieren.

ROBOTIK UND PRODUKTION: In diversen Messeexponaten hatte Schunk Studien zum autonomen Greifen vorgestellt. Wie weit ist die Entwicklung hier fortgeschritten?

Glück: Aktuell untersuchen wir, wie der Greifvorgang an sich automatisiert werden kann. Das Ziel ist es, die bislang übliche Programmierung des Roboters mittelfristig durch einen lernenden, autonomen Komponentenverbund zu ersetzen. Statt Positionen, Geschwindigkeiten und Greifkräfte Schritt für Schritt einzeln zu programmieren, werden intelligente Greifsysteme künftig ihre Zielobjekte über Kameras erfassen und die Greifplanung selbständig übernehmen. Auf Grundlage von Datenbeständen und Algorithmen sollen Greifsysteme in die Lage versetzt werden, Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und entsprechende Reaktionen abzuleiten. Darüber hinaus arbeitet unser Innovation Center an Algorithmen und lernenden Systemen, um unterschiedliche Geometrien und Anordnungen zu klassifizieren und Greifstrategien zu entwickeln. Greifsysteme sollen in die Lage versetzt werden, Teile eigenständig zu handhaben und die zugrundeliegenden Greifabläufe immer weiter zu verfeinern. In diesem Kontext gewinnen unsere Greifhände an Bedeutung. Gerade in komplexen Umgebungen mit einer großen Teilevarianz können sie sehr flexibel agieren. Mithilfe von Methoden der Künstlichen Intelligenz wird es künftig möglich sein, Service- und Assistenzroboter intuitiv zu trainieren und individuelle Bibliotheken zur Greifplanung zu erstellen und anzureichern.

Der Co-act EGL-C ist der weltweit erste Großhubgreifer für kollaborierende Anwendungen. Er kann kraftschlüssig Werkstücke bis 2,25kg handhaben, formschlüssig bis 8kg. (Bild: Schunk GmbH & Co. KG)

ROBOTIK UND PRODUKTION: Inwieweit wirkt sich die Digitalisierung auf die Schunk-eigene Produktion aus?

Glück: Wir sehen im Zusammenhang mit der Digitalisierung einen ganzheitlichen Veränderungsprozess, der alle Unternehmensabläufe und Arbeitsprozesse tiefgreifend verändert. Im Kern geht es um vier zentrale Handlungsfelder: Smart Factory, Smart Enterprise, Smart Services und Smart Products, für die wir jeweils Handlungsstränge abgeleitet haben. Wesentliche Bestandteile unserer Digitalisierungsstrategie in der Produktion sind die Implementierung einer Industrie-4.0-fähigen IT-Landschaft und eines intelligenten Datenmanagements, die Automatisierung und Flexibilisierung der Produktion sowie die Installation kollaborativer und teilautonomer Prozesse. An unserem Greifsystemstandort Brackenheim-Hausen exerzieren wir in der Praxis, was mit Big Data und moderner IT möglich ist. Der neue Gebäudekomplex wird u.a. mit vollautomatisierten Kommissionierrobotern, fahrerlosen Transportsystemen und einem automatischen Kleinteilelager ausgestattet.

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