Expertenrunde ‚Die Messtechnik der Zukunft‘ – Teil 1/2

ROBOTIK UND PRODUKTION: Wo findet die Messtechnik der Zukunft statt: Im Messlabor oder produktionsnah bzw. Inline?

Modrich: Das kommt darauf an, was sie tun wollen. Wollen Sie in einem Bereich messen, bei dem wir über µm sprechen und es klare Festlegungen, Normen und Richtlinien gibt, wo Genauigkeiten definiert sind? Dann haben Sie dort auch die entsprechenden Randbedingungen einzuhalten, die in einem Messraum gegeben sind. Diese Randbedingungen haben Sie aber in einer Produktion de facto nicht. Der Kunde muss sich darüber im Klaren sein, will er Messwerte erfassen, mit denen er entsprechende metrologische Ansätze und Qualitätsaspekte verfolgt oder geht es ihm um das Thema Prozesskontrolle, bei der ich auf Basis der Daten Produktionsprozesse steuern und regeln will. Das sind völlig unterschiedliche Aufgabenstellungen.

Christoph: Hochgenaue Messaufgaben gibt es auch in der Fertigung, z.B. bei Einspritzsystemen für einen Motor. Dort sind Toleranzen im unteren µm-Bereich zu prüfen und dort kommt die Messtechnik, egal ob in der Fertigung oder im Messraum, an ihre Leistungsgrenzen. Es ist wichtig, dass es dort eine durchgängige Unterstützung der Anwendung gibt. Durchgängigkeit ist entscheidend. Es macht wenig Sinn, im Messraum mit einer Technik zu messen, die man später bei der Fertigungsüberwachung nicht zur Verfügung hat. Messräume wird es aus meiner Sicht immer geben. Was neu hinzu kommt, ist aber im stärkeren Maße eine fertigungsintegrierte Messtechnik.

Beyer: Rein aus Normensicht und Zertifizierungsgründen wird man das Messhaus auch zukünftig brauchen, um bestimmte Aussagen treffen zu können.

Wirth: Wenn wir auf den Automobilbau schauen, gibt es dort einen klaren Trend, Messtechnik von den Messhäusern direkt an die Linie zu verlagern. Dort haben wir aber mit völlig anderen Herausforderungen zu kämpfen, bei denen z.B. auch die Temperaturveränderung des Objekts rechnerisch zu berücksichtigen ist.

Reich: Bauteile werden nicht im Messraum produziert, sondern in der Produktion. Die Umgebungsbedingungen dort sind ganz andere. Man wird zukünftig viel mehr Entscheidungen aufgrund von Messdaten treffen, die direkt in der Produktion erhoben werden, weil diese häufig bezüglich Prozess und Qualität relevanter sind als die Aussagen aus dem Messraum.

Wohlfeld: Ich bin bei Arena 2036, einem Forschungscampus an der Universität Stuttgart, zuständig für den digitalen Zwilling. Dabei geht es auch darum, wie man starre Produktionslinien auflösen und modularer werden kann. Was bedeutet dies für die Messtechnik? Die Frage ist, ob man bei Qualitätsproblemen immer gezielt vor Ort Messtechnik einsetzen muss, oder nur dann, wenn man sie wirklich braucht und danach das System wieder an einer anderer Stelle einsetzt. Man muss also nicht überall eine Inline-Inspektion haben, sondern nur gezielt dort, wo man aktuell Fehler erkennt. Low-Cost-Sensoren werden zudem immer günstiger und können daher überall eingebaut werden um Tendenzen zu erkennen. Bei einem Fehler kann ich dann immer noch gezielt an den Punkten automatisiert nachmessen, wo ich es benötige.

ROBOTIK UND PRODUKTION: Prozesskontrolle und Qualitätsüberwachung wachsen zusammen. Ist das etwas was bereits stattfindet oder erst in Zukunft erfolgen wird?

Modrich: Das sind Dinge, die heute bereits bei unseren Kunden passieren. Wenn aber stark verkettete Anlagen in Zukunft dezentrale autonome Roboterbearbeitungszentren sind, stellt sich die Frage: Gibt es dann auch einen autonomen dezentralen Messraum, in den sich Teile rein bewegen und dort sowohl Messtechnik als auch Prozesskontrollen durchgeführt werden? Wir müssen uns daran orientieren, wie sich die Produktionsstrukturen verändern. Wenn man über Industrie-4.0-Konzepte nachdenkt, ist klar erkennbar, dass jedes Bauteil mit den Maschinen und Anlagen kommuniziert. Daher stellt sich die Frage: Wie kann ich die Prozesse entsprechend über Daten steuern und regeln, die aus meiner Messanlage kommen?

Reich: Es besteht nicht nur der Wunsch, Produktionsprozesse zu überwachen, sondern auch Probleme bei Qualitätsmerkmalen schneller zu erkennen. Zukünftige Messsysteme werden Anforderungen aus beiden Welten erfüllen müssen.

Christoph: Bei einer unserer Kundenapplikationen werden zunächst die Erstmuster von Aluminiumteilen mit vielen Bohrungen im Messraum gemessen. Man überprüft so die Genauigkeit des Prozesses. Anschließend wird der Prozess überwacht und eine 100-Prozent-Kontrolle durchgeführt. Mit einer automatischen Fertigungsmesszelle mit Roboterbestückung und der Kombination von Koordinatenmesstechnik mit Bildverarbeitung und CT in einer Kette. Es wird so die 100-Prozent-Kontrolle von knapp 1.000 Teilen pro Schicht gewährleistet.

„Mittels KI schafft man es, mit ca. 2/3 des Hardwareaufwands das gleiche Messergebnis und Informationsvolumen zu bekommen, für das man vorher viele ‚unnötige‘ Messungen benötigt hat.“ Roland Beyer, Consultant (Bild: Spectronet)

ROBOTIK UND PRODUKTION: Was möchte der Anwender?

Beyer: Mit weniger Sensoren die bereits erzeugten Prozessdaten besser nutzen. Heutzutage wird im Rahmen der Prozessüberwachung nur darauf geschaut: „Sind die Ergebnisse in der Toleranz oder nicht?“ Untersuchungen zeigen, dass über 80 Prozent der im Automobilrohbau gewonnenen Mess- und Geometriedaten völlig unauffällig sind. Bei einem Aufkommen von 3.000 Messpunkten pro Fertigungstakt und 1.000 Fahrzeugen pro Tag sind das drei Millionen Messpunkte. Von denen sind 80 Prozent (2,4Mio.) nicht relevant. Nun kann man natürlich diese Messpunkte nicht einfach weglassen, da man vorher nicht weiß, welche Punkte auffällig werden und welche nicht. Allerdings kann man durch eine Onlinebewertung der Prozessdaten eine Dynamisierung einführen. Ein Messdatenmanager überwacht online mittels KI die Messergebnisse pro Takt und legt permanent neu fest, welche Messpunkte interessant, d.h. auffällig sind und welche für den kommenden Messtakt ausgelassen werden können. Durch diese Methode erreicht man mit des bisherigen Hardwareaufwands das gleiche Messergebnis mit gleichem Informationsvolumen. Messpunkte, die aus rechtlichen, d.h. Gründen der Produkthaftung, zu 100 Prozent überwacht werden müssen, bleiben bei diesem Verfahren natürlich permanent im Messablauf integriert.

Wirth: Wir haben ein derartiges Projekt mit Herrn Beyer realisiert, aber auch gesehen, dass die Anwender im Werk seinerzeit nicht bereit dafür waren. Da waren wir der Zeit noch etwas voraus. Letztendlich wird sich eine dynamisierte Inline-Messtechnik in den nächsten Jahren weiter durchsetzen, weil auch die Roboterseite immer intelligenter wird, sodass es auch für den Anwender wesentlich einfacher wird, solche Systeme einzusetzen.

Teilnehmer

Dr. Denis Wohlfeld, Senior Innovation Manager, Faro Europe

Dr. Carsten Reich, Director Automation, GOM

Holger Wirth, Entwicklungsleiter, Isra Vision

Dr.-Ing.habil. Ralf Christoph, Geschäftsführer, Werth Messtechnik

Dr. Kai-Udo Modrich, Managing Director, Carl Zeiss Automated Inspection

Roland Beyer, Senior Consultant, Fertigungsmesstechnik und Qualitätsprüfung

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