Kolumne von Michael Lind
Schöne neue Arbeitswelt
Der Kampf um Sieg und Platz bei der kommenden Bundestagswahl ist eröffnet. Alle Parteien haben sich und ihre Protagonisten in Stellung gebracht. Und alle hoffen inständig auf Erfolgsmeldungen von den kritischen Fronten, um sie sich an ihre jeweiligen Fahnen heften zu können. Seltsamerweise gibt es sie.
Da überraschte beispielsweise Anfang des Jahres die Mitteilung, dass Deutschland seine Klimaziele für 2020 erreicht habe. Das allerdings ist nicht einem plötzlichen Tätigkeitsanfall unserer „Klimakanzlerin“ Angela Merkel und ihrer Ministerriege zu verdanken, sondern vor allem den Corona-bedingten Einschränkungen des Individualverkehrs während der letztjährigen Lockdown-Phasen. Wer im Homeoffice arbeitet, musste nicht zur Arbeitsstelle und zurück nach Hause pendeln. Videocalls hatten Geschäftsreisen weitestgehend ersetzt. Veranstaltungen wie Fachmessen, Konferenzen, Foren und ähnlich waren online besuchbar, Urlaubsreisen ohnehin abgesagt.
Apropos Individualverkehr: Die ständig wehklagenden Automobil-Konzerne konnten im letzten Jahr trotz Corona-Pandemie und neuer Abgas- und Verbrauchsnormen passable Verkaufszahlen vorweisen. Besonders gefragt: SUV mit Verbrennungsmotoren. Eigentlich schwer nachvollziehbar angesichts der in Deutschland angestrebten Klimaneutralität. Ein Schritt in diese Richtung ist die Entwicklung und Verbesserung von alternativen Antriebstechnologien. Doch gerade sie werden die traditionellen Lieferketten innerhalb der Autobranche verändern. Besteht beispielsweise ein moderner Verbrennungsmotor aus etwa 2.500 Bauteilen, so sind es bei einem Elektroantrieb um den Faktor zehn weniger. Die Produktionszahlen an Schaltgetrieben, Vergasern, Kolben, Pleuel, Ölfiltern etc. werden zwangsweise sinken. Und das wiederum heißt, dass man für ihre Fertigung deutlich weniger Mitarbeiter braucht als bislang.
Die Arbeitswelt erlebt momentan eine „Umwertung der Werte“, allerdings nicht im philosophischen Sinne à la Friedrich Nietzsche, sondern vor allem von ihren Inhalten her. Spinnen wir die Ursache/Wirkung-Kette noch ein bisschen weiter: Wenn die Arbeit im Homeoffice künftig zur Regel werden soll, dann könnten die zusehends leerenden Verwaltungs- und Bürogebäude in Wohnhäuser umgewidtmet werden. Gleiches gilt für Ausstellungshallen auf Messegeländen, die demnächst kaum bis gar nicht mehr genutzt werden. Von den überpreisten Messehotels in ihrer Nachbarschaft ganz zu schweigen. Da gibt es jede Menge Arbeit für Stadt- und Verkehrsplaner, Architekten, Bauingenieure, Landschaftsgärtner mit zukunftsweisenden Ideen, und für fundierte Handwerker unterschiedlichster Gewerke.
Freilich wird auch die Industrie künftig Personal benötigen, vor allem Mechatroniker und IT-Spezialisten aus allen Bereichen zum Einrichten, Programmieren, Bedienen, Warten von (roboter-)automatisierten Produktions- und Montageanlagen, von Logistik- oder CNC-Bearbeitungszentren. Elektroniker, Energetiker, Chemiker, Physiker, Werkstoff-Ingenieuer oder Verfahrenstechniker könnten branchenübergreifend Technologien entwickeln und verbessern, wie aus Wind, Sonne, Wasserstoff und Biogas gewonnene Energie effektiv gespeichert und übertragen werden kann. Das sind unter anderem die krisensicheren Arbeitsplätze der Zukunft. Abgesehen von der Medizin natürlich. Landärzte und -ärztinnen etwa genießen eine Reputation, von der manche Industrie-Vorstände und Parlamentarier*innen nur träumen können.
Es gibt allerdings auch Berufe, die künftig weniger gefragt sein dürften. Wenn beispielsweise (wie aktuell) das Gros der zivilen Luftflotte in Deutschland am Boden bleibt und Kurzstreckenflüge in absehbarer Zeit ohnehin der Vergangenheit angehören – wohin dann mit den hierzulande lizenzierten 22.400 Pilot*innen und dem ganzen fliegenden Personal? Wenn Finanzinstitute die Zahl ihrer Filialen radikal reduzieren, dann braucht man auch nicht mehr die Heerscharen an Bankkaufleuten, Finanz- und Anlageberatern oder Volkswirten. Geringe Chancen auf Erfolg sehe ich persönlich momentan bei Menschen, die gerne Lobbyist*innen und Berater*innen wären. Nach der Bundestagswahl im September dürften einige gewesene Minister*innen und parlamentarische Hinterbänkler*innen sich bei Verbänden und Unternehmen als „gerne weiterverdienend“ empfehlen. (mli)